Die Legende der Traumfänger

Traditionelle Überlieferung

Vor langer, langer Zeit war eine Familie in ganz schwerer Not. Wohl führten sie ein gutes und im Geistigen begründetes Leben, aber ihre Nächte waren von schrecklichen Träumen und Visionen erfüllt. Der Vater, der keinen anderen Ausweg sah, nahm seine Medizinpfeife und ging, um Rat zu suchen beim großen Geist. Ruhig saß er auf einem offenen, mit Präriegras bestandenen Feld, rauchte dabei und lauschte dem Flüstern des Windes. "Ich kann dir helfen", hört er. "Wer sprach zu mir?" , fragte der Vater. Als er um sich sah, bemerkte er eine große Spinne, die auf einem Grashalm saß. "Ich bin es, die dich angerufen hat. Ich habe eine Antwort auf deine Gebete. Ich will dich meine Medizin lehren. Die Verwirrung in deinem Leben kommen nicht aus dir selbst, denn du führst ein gutes, im Geistigen begründetes Leben. Jene Geister um dich herum, die nicht in Harmonie leben, möchten, daß du zugrunde gehst. Es sind böse Geister, dem Chaos entstammend, die dich während deines Schlafes heimsuchen." Während die Spinne dem Vater das alles sagte, war sie geschäftig, zog zwei Grashalme zueinander und band sie mit Spinnweb zusammen. "Du mußt mir jetzt bestimmte Dinge bringen, damit ich dir helfen kann", sagte die Spinne. Der Vater ging fort und brachte, als er zurückkam die Dinge mit, die die Spinne erbeten hatte. Zuerst legte er die Adlerfeder in das Gewebe. "Diese Feder bedeutet die Luft und die Geister der Lüfte", sagte die Spinne. "Als nächstes soll der Stein in das Gewebe gebracht werden, dieser Stein bedeutet den Geist der Erde.
Dann lege die Muschel in das Gewebe, diese Muschel bedeutet den Geist des Meeres. Zum Schluß lege die Perlenschnur in das Gewebe: Diese Perlen wurden im Feuer gebildet und bedeuten die Geister des Feuers. Nun nimm diesen Fänger der Träume, der die Kräfte von Erde, Wind, Feuer und Wasser in sich trägt. Hänge ihn über dein Bett und du wirst gut ruhen. Weil friedliche Geister sich in einer geraden Linie fortbewegen, werden sie in den Träumen zu dir kommen können. Aber die Geister chaotischen Ursprungs können auf gerader Linie nicht vorankommen und werden in dem Gewebe eingefangen, wo sie festgehalten werden, bis die ersten
Strahlen der Sonne sie verbrennen."



Von den Ojibwa ist nachfolgende Geschichte, woher die Traumfänger kamen und wozu sie genutzt wurden, überliefert:

"Vor langer Zeit lebten alle Gruppen der Ojibwa-Nation auf einem Platz, der Schildkröteninsel hieß. Die Spinnenfrau Asibikaashi half Manibosho, einem wichtigen Trickster (ein Trickster spielt den Gottheiten und Menschen oft Streiche) der Ojibwa, die Sonne den Leuten wiederzubringen. Sie knüpfte ihr Netz vor der Morgendämmerung und wenn man dann morgens erwachte, fing sie das Licht des Sonnenaufgangs in den Tautropfen, die das Netz funkeln ließen. Diese Netze mit der eingefangenen Sonne brachte die Spinnenfrau zu allen Babys, und deren weiblicher Verwandten.

Die Spinnenfrau sorgte sich um ihre Leute und tut das heute noch. Als sich die Ojibwa-Nation ausbreitete, wurde es für die Spinnenfrau schwieriger, ständig die Reise zu allen Baby-Wiegen, Müttern, Schwestern und Großmüttern zu machen. So bildete sich die Gewohnheit aus, für die kleinen Babys das magische Netz unter Verwendung von Weidenholzringen und Sehnen oder Pflanzen-Schnur selbst zu weben. Die Kreisform des Ringes soll den täglichen Lauf der Sonne symbolisieren.

Der Traumfänger filtert alle schlechten Träume heraus und erlaubt nur den guten, bis zu den Gedanken vorzudringen. Um den guten Träumen den Weg freizumachen, befindet sich in der Mitte eines jeden Traumfängers ein mehr oder minder großes Loch. Mit dem ersten Sonnenstrahl rinnen die bösen Träume, die sich im Netz verfangen haben, wie Wassertropfen an den Federn des Traumfängers ab“.



Überlieferung der Lakota

Nach einer weitverbreiteten These wird den Lakota der mittleren bis nördlichen Plains der Ursprung der Traumfänger zugeschrieben. In der Mythologie der Lakota spielt der Spinnenmann Iktomi, die Klugheit, (Iktomi ist zugleich ein Trickster, der Menschen und Gottheiten Streiche spielt) eine wichtige Rolle. Mit ihm wird die folgende Geschickte verknüpft:

"Vor langer Zeit ging ein alter Medizinmann auf einen Berg, und während er dort eine Vision erlebte, erschien ihm Iktomi in Gestalt einer Spinne. Er sprach zu ihm in einer mystischen Sprache und begann ein Netz zu weben, indem er Federn, Pferdehaare, Perlen u.a. Material verarbeitete. Iktomi sprach zu dem Alten über den Lauf des Lebens, das man als Kind beginnt und in dem man schließlich erwachsen wird.

Am Ende des Erwachsenenlebens bedarf man dann wieder der Hilfe der Kinder, und der Lebenszyklus schließt sich. In jeder Lebensphase, so sprach Iktomi, während er das Netz spann, gibt es gute und böse Kräfte. Folgt man den guten Kräften, wird man beim Weg in die richtige Richtung bestärkt. Doch folgt man den bösen Kräften, erleidet man Schmerzen. So können diese Kräfte die natürliche Harmonie stärken oder stören. Dabei webte der Spinnenmann das Netz weiter.

Als er fertig war, gab er dem Alten das Netz und sprach: Das Netz ist ein Kreis mit einem Loch in der Mitte. Nutze das Netz, um den Leuten zu helfen, ihre Ziele zu erreichen, nutze ihre Gedanken, Träume und Visionen. Wenn ihr an den Großen Geist glaubt, wird das Netz eure guten Träume einfangen und die schlechten werden durch das Loch in der Mitte entweichen.


Der Alte tat seine Vision kund und fortan begannen viele Leute Traumfänger über ihren Betten aufzuhängen, um ihre Träume und Visionen 'auszusieben'. Die guten wurden im Netz gefangen und bewahrt, während die schlechten Träume durch das Loch entwichen und das Leben nicht weiter beeinflussten."



Überlieferung der Azteken

Wenn es dunkel wird und die Erdenmenschen müde werden und einschlafen, beginnen die Geistenergien mit ihren mannigfaltigen Wesen und Unwesen. Einige verwandeln sich in Träume. Und wie es gute und schlechte Geistenergien gibt, gibt es gute und schlechte Träume. Schlechte Träume bringen Krankheiten oder sie sind ein Zeichen für bösen Zauber.

Die Alten haben erzählt, wie man es macht, damit böse Träume uns nicht erreichen können:

Es war eine Ahnfrau, die sehr unglücklich war. Denn sie hatte ein Kind, das jede Nacht mit den Kojoten weinte, weil ihr im Schlaf böse Träume böse Geschichten erzählten. Und weil die Ahnfrau keine Hilfe mehr wusste, bat sie die Spinnenfrau um ihren Rat. Spinnenfrau war viel älter als Ahnfrau und von großer Weisheit. Sie bog aus dem Holz der Bäume, die am Wasser wuchsen, einen Ring, nicht größer als der Kopf des Kindes.

Dann verwandelte sie sich in eine Spinne und spann Fäden in den Ring, kreuz und quer. Als sie damit fertig war, flocht sie Gegenstände von großer magischer Kraft in das Netz: die Rassel der Klapperschlange, die Wurzel einer Zauberpflanze, einen bunten Stein, das Haar des Bären und des Büffels. Und viele andere Gegenstände mehr, alle von großer magischer Kraft.

Spinnenfrau sagte: Nimm es und hänge es über die Wiege. So wird kein Traum mehr Kraft über dein Kind bekommen. Es wird bewirken, dass keine schlechte Energie mehr in euer Tipi kriecht, es wird alle diese Kräfte fangen und sammeln. Am Morgen werden sie mit der Nacht verschwinden. Zeige das Netz deinen Brüdern und Schwestern, und webt euch selbst Netze, damit die bösen Träume ihre Macht über deine Brüder und Schwestern verlieren. Und so ging die Ahnfrau in ihr Dorf zurück und tat, wie ihr geraten.



Überlieferung der Ureinwohner Australiens, den Aborigines:

Die Seelenfrau diente der Gemeinschaft als Traumfängerin. Alle Menschen träumen, nicht jeder macht sich die Mühe, sich an seine Träume zu erinnern und die darin enthaltenen Botschaften zu entziffern, aber wir träumen alle.
Träume sind Schatten der Realität, von allem was auf dieser Welt geschieht, gibt es auch ein Abbild in der Traumwelt. Und dort findet man zu allem eine Antwort.

Die Spinnennetze wurden bei einer aus Tänzen und Liedern bestehenden Zeremonie als Hilfsmittel eingesetzt. Man bat das Universum auf diese Weise um eine Führung durch die Welt der Träume. Die Seelenfrau half dem Träumenden dann, die Botschaft in seinem Traum zu deuten.
Es gab Ahnenträume aus der Zeit, als der Gedanke die Welt erschuf; es gab Wachträume wie zum Beispiel die tiefe Meditation; es gab Schlafträume und viele andere mehr.

Die Stammesangehörigen nehmen die Hilfe der Traumfänger bei den unterschiedlichsten Problemen in Anspruch. Wenn sie sich über ihre Beziehung zu einem anderen Menschen nicht im klaren sind, Probleme mit der Gesundheit haben oder nicht verstehen, welchen Sinn eine bestimmte Erfahrung haben soll, suchen sie die Antwort auf ihre Fragen stets im Traum.
Für uns "Veränderte Menschen" gibt es nur einen Zugang zur Traumwelt: den Schlaf. Aber die "Wahren Menschen" können sich auch im wachen Zustand in die Bewusstseinsebene des Traums versetzen. Da sie sich nicht mit Hilfe bewusstseins -verändernder Drogen in die Traumwelt begeben,
sondern einfach durch Atemtechnik und Konzentration, handeln sie sehr bewusst. Die Stammesangehörigen träumen nachts nur, wenn sie einen Traum herbeigerufen haben. Der Schlaf ist für ihre Körper eine wichtige Zeit der Ruhe und Erholung. In diesen Stunden sollen die Energien nicht auf mehrere Vorhaben gleichzeitig gelenkt werden. Sie glauben, dass wir "Veränderten Menschen" nachts träumen, weil es in unserer Gesellschaft nicht erlaubt ist, tagsüber zu träumen.

(aus dem Buch "Traumfänger" von Marlo Morgan)

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Die Legende der Traumfänger
Traditionelle Überlieferung Vor langer, langer Zeit...
jerkformgiesser - 1. Dez, 00:11

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